Das bedingungslose Grundeinkommen: ein Thema für jede Gewerkschaft
 
Der „Gewerkschaftsdialog Grundeinkommen“ ist eine Gruppe von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, die über das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) diskutieren wollen.

Wir sind nicht neutral. Wir sind überzeugt,

  • dass ein menschenwürdiges Leben nicht von Erwerbsarbeit abhängen darf,
  • dass sich der Wohlstand mit immer weniger Erwerbsarbeit erhalten lässt,
  • dass ein BGE finanzierbar ist,
  • dass es eine gerechtere Gesellschaft ohne Existenzangst schafft und
  • dass es den Gewerkschaften hilft, ihre Ziele zu erreichen.

 

Inhalt:

  1. Die Ziele der Gewerkschaften
  2. Von der Bedeutung freier Tätigkeiten
  3. Was Arbeit wert ist
  4. Das Märchen von der Vollbeschäftigung
  5. Die Wahrheit hinter der Statistik
  6. Erwerbsarbeit ohne Zwang
  7. Utopie mit Chancen und Risiken
  8. Von der Erwerbs- zur Tätigkeitsgesellschaft
  9. Das Grundeinkommen im Sozialstaat
  10. Neoliberale und konservative BGE-Konzepte
  11. BGE ist finanzierbar
  12. Was allen zusteht
  13. Solidarisch abgesichert
  14. BGE für Klima und Frieden
  15. Eine gerechte Gesellschaft

 
1. Die Ziele der Gewerkschaften
Der Genfer Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation beschloss 1866, für den Achtstundentag zu kämpfen. Arbeitszeitverkürzung war also von Anfang an ein zentrales Ziel der Gewerkschaftsbewegung. Die solidarische Organisation kollektiver Gegenmacht und der Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen stehen in den Gründungsurkunden der Gewerkschaften, nicht die Forderung nach immer mehr Erwerbsarbeit für alle Zeiten.
 
2. Von der Bedeutung freier Tätigkeiten
Erst seit etwa zweihundert Jahren, also seit der Industrialisierung, ist Tätigkeit gegen Entgelt die vorherrschende Arbeitsform. Wer den Lohn braucht, handelt nicht frei. Die Gewerkschaften treten für Freiheit und soziale Gerechtigkeit ein. Freiheit bedeutet: frei sein von Not und Zwang, auch vom Zwang zur Erwerbsarbeit. Neben der Erwerbsarbeit gibt es unbezahlte Tätigkeiten, ohne die eine Gesellschaft nicht existieren könnte: für Familie und Ehrenamt, für Bildung, Gesundheit und Kultur. Weil die gesellschaftlichen Bedürfnisse sich mit immer weniger Erwerbsarbeit erfüllen lassen, kann das gewerkschaftliche Ziel „mehr freie Zeit“ verwirklicht werden – vorausgesetzt, Existenz und Teilhabe sind ohne Erwerbseinkommen gesichert.
 
3. Was Arbeit wert ist
„Heutzutage kennen die Leute den Preis von jeder Sache und den Wert von keiner“, schrieb Oscar Wilde. Karl Marx erkannte, dass alle Waren, also auch die Ware Arbeitskraft, einen Tauschwert (Preis bzw. Lohn) und zugleich einen Gebrauchswert (Nutzen) haben. Wer Wohlstand am Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst, sieht nur den Tauschwert. Sogar Unfälle und Umweltschäden tragen aus dieser Sicht zum Wohlstand bei, denn die Kosten erhöhen das BIP. Eine Alternative zum BIP ist der Nationale Wohlfahrtsindex, der jedes Jahr im Auftrag des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomik berechnet wird. Würde der Wert von Waren und Dienstleistungen nicht nur durch den Tauschwert, sondern auch durch den gesellschaftlichen Nutzen bestimmt, hätte die Supermarktkassiererin ein anständiges Gehalt. Wie kommt der Wert in die Welt? Darüber müssen wir diskutieren, denn es ist nicht zuletzt für die Finanzierung des BGE wichtig.

4. Das Märchen von der Vollbeschäftigung
Technischer Fortschritt ersetzt menschliche Arbeitskraft. Um 1900 erzeugte ein Landwirt in Deutschland Nahrungsmittel für vier, im Jahr 2010 für 131 Personen. Der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft sank von 38 auf zwei Prozent. Auch sonst wuchs die Produktivität. Zwar ist umstritten, ob Digitalisierung mehr Arbeitsplätze vernichtet oder mehr neue schafft, doch Vollbeschäftigung als Mittel zur Existenzsicherung taugt nicht mehr als gewerkschaftliches Ziel. Sie würde unaufhörliches Wachstum erfordern – ökonomisch ausgeschlossen, ökologisch nicht zu verantworten. Die Digitalisierung wird manchen Job kosten, denn nicht jede Kassiererin kann und will Programmiererin werden. Dass Vollbeschäftigung eine Illusion ist, beweist eher unfreiwillig die Statistik – indem sie die Arbeitslosigkeit gezielt verschleiert.
 
5. Die Wahrheit hinter der Statistik
Die offizielle Arbeitslosenstatistik zeigt nicht das tatsächliche Ausmaß der Erwerbsarbeitskrise. Mehr als eine Million Arbeitslose werden nicht mitgezählt, zum Beispiel ältere Hartz-IV-Bezieher, Ein-Euro-Jobberinnen und Menschen in Eingliederungsmaßnahmen. Verschleiert wird, dass prekäre Arbeit zunimmt. Von 1996 bis 2016 hatte sich die Zahl der Leiharbeiter*innen mehr als verfünffacht, jede*r Vierte erhielt Niedriglohn. 1,2 Millionen Menschen mussten mit Hartz IV aufstocken. Das waren, neben 520.000 Minijobber*innen, auch 156.000 Vollzeitbeschäftigte.
 
6. Erwerbsarbeit ohne Zwang
Mit neuer Technik kann in weniger Zeit mehr produziert werden. Menschliche Arbeit lässt sich reduzieren, ohne dass es zu Einschränkungen käme. Das ist belegt. Das Arbeitsvolumen pro Kopf der Bevölkerung ist nur noch halb so hoch wie 1882. Die Arbeitsproduktivität stieg von 1991 bis 2011 um 34,8 Prozent je Erwerbstätigenstunde. Damit ergeben sich Emanzipationschancen von historischer Dimension. Der Mensch kann selbst entscheiden, wofür er seine Lebenszeit nutzt. Eine „Gesellschaft der befreiten Zeit“ muss demokratisch erstritten werden. Gestalten die Gewerkschaften den Übergang von der Erwerbsarbeits- zur Tätigkeitsgesellschaft konstruktiv mit, sichert das auch ihre eigene Zukunft.
 
7. Utopie mit Chancen und Risiken
Zum ersten Mal in der Geschichte der Neuzeit kann bezahlte Arbeit ihre zentrale Rolle verlieren. Eine Gesellschaft selbstbestimmt arbeitender Menschen braucht andere Institutionen. Auch die Gewerkschaften müssen ihre Ziele und Strategien prüfen. Wie immer gibt es Chancen und Risiken. Nationalstaatliche Ideologien, die überkommene Strukturen wiederbeleben wollen, sind deshalb so erfolgreich, weil die Politik keine konkrete Utopie jenseits der Erwerbsarbeitsgesellschaft anbieten kann.
 
8. Von der Erwerbs- zur Tätigkeitsgesellschaft
Die Gewerkschaften müssen einerseits im bestehenden System weiter für gute Erwerbsarbeit kämpfen. Hier hilft das BGE: Wer seine Existenz gesichert weiß, akzeptiert keinen schlechten Job. Gegen Lohndumping braucht es weiterhin den Mindestlohn. Andererseits müssen sie den Wandel von der Erwerbs- zur Tätigkeitsgesellschaft gestalten. Wenn die Bedeutung der Erwerbsarbeit schwindet, werden selbstbestimmte Tätigkeiten wichtiger. Hier können die Gewerkschaften daran anknüpfen, dass sie aus der Arbeiterbildung hervorgegangen sind. Wo jede*r lernen muss, Verantwortung für sich selbst und für die Gemeinschaft zu übernehmen, ist Bildungsarbeit nötiger denn je.
 
9. Das Grundeinkommen im Sozialstaat
Weil durch technischen Fortschritt die Produktivität steigt, ist immer weniger menschliche Arbeitskraft und damit Erwerbsarbeit nötig. Deshalb brauchen wir eine von der Erwerbsarbeit unabhängige Einkommensquelle: das BGE. Unser BGE ist keine Sozialleistung, es ist ein Menschenrecht. Es gehört deshalb als Rechtsanspruch ins Grundgesetz. Alle erhalten regelmäßig Geld von der Gesellschaft, auch ohne bedürftig zu sein und ohne Gegenleistung. Unser BGE ist kein Almosen. Es sichert Existenz und Teilhabe, schützt allerdings nicht gegen allgemeine Lebensrisiken wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Behinderung.

 

10. Neoliberale und konservative BGE-Konzepte

Neben dem emanzipatorischen BGE, das unabhängig macht, gibt es das neoliberale BGE. Für Neoliberale und Konservative soll es der Markt richten, nicht der Staat. Die Sicherung gegen Lebensrisiken wird zur Privatsache erklärt. Den Rechtsanspruch auf Sozialleistungen soll dann eine einzige, meist viel zu niedrige Geldleistung ersetzen. Wir grenzen uns scharf von solchen „Unterstützern“ eines BGE ab. Ihre Konzepte würden den Sozialstaat aushöhlen, den insbesondere die Gewerkschaften erstritten haben.

 

11. BGE ist finanzierbar
Ein BGE ist finanzierbar, das zeigen durchgerechnete Modelle. Wenn Erwachsene jeden Monat 1200 Euro erhalten sollen und Kinder bis 16 Jahre die Hälfte, müssen dafür (Stand 2021) pro Jahr 1.100 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Der Sozialphilosoph Karl Reitter zeigt, dass das möglich ist, wenn ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts umverteilt wird. Für uns ist klar: Einkommen aus Vermögen und Landbesitz, zum Beispiel Pacht, Miete, Dividenden und Zinsen, müssen das BGE mitfinanzieren. Wir brauchen Vermögensteuer und Finanztransaktionssteuer, eventuell eine Mikrosteuer auf bargeldlose Zahlungen. Akzeptable Finanzierungsquellen haben wir zusammengestellt. Teile des BGE ließen sich zunächst auch durch staatliche Geldschöpfung  finanzieren.

 

12. Was allen zusteht

Das BGE kann und soll nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen. Doch es hilft, das ökonomiscjhe System des Kapitalismus zu überweinden, hin zu einer gerechten Gesellschaft. Weil Deutschland nach der Verfassung ein Sozialstaat ist, müssen weitere einklagbare Rechte ins Grundgesetz, unter anderem ein Recht auf Wohnen, ein Recht auf Bildung und ein Recht auf soziale Sicherheit. Welche Güter und Dienstleistungen als öffentliche Güter unentgeltlich zur Verfügung stehen sollen, müssen wir als Gesellschaft diskutieren.

 

13. Solidarisch abgesichert
Lohnersatzleistungen wie Renten und Arbeitslosengeld sind individuelle Rechtsansprüche. Dieses System der sozialen Absicherung soll – nach einer Übergangszeit mit besonderen Regeln – zur solidarischen Bürgerversicherung werden. Die Alterssicherung könnte sich aus dem BGE und einer umlagefinanzierten Zusatzversicherung zusammensetzen. Auch wer nur wenig einzahlen konnte, wäre dann nicht mehr allein auf eine menschenunwürdig niedrige Lohnersatzleistung angewiesen. Steuerfinanzierte Unterstützung in besonderen Lebenslagen muss erhalten bleiben. Dass unsere Sozialsysteme an Erwerbsarbeit gekoppelt sind, müssen wir grundsätzlich diskutieren.

 

14. BGE für Klima und Frieden

Krieg und Klimakrise bedrohen die Menschheit. Diejenigen, die am wenigsten zur Klimakrise beitragen, leiden am meisten darunter. Die dramatische Ungleichheit  zwischen reichen und armen Ländern, aber auch zwischen Arm und Reich bei uns, stiftet Unfrieden und bremst kluge Klimapolitik. Für Klima und Frieden muss die Ungleichheit abgebaut werden. Ein BGE kann das. Es verteilt den Reichtum von oben nach unten, holt arme Länder aus der finanziellen Abhängigkeit und durchbricht die klimaschädliche Spirale des Wachstums.  Wer darauf vertrauen kann, nicht durchs soziale Netz zu fallen, ist für einschneidende ökosoziale Veränderung gerüstet.
 
15. Eine gerechte Gesellschaft
Das emanzipatorische BGE ist ein Gewinn an Freiheit durch mehr frei verfügbare Zeit. Damit sind Existenzangst und Armut Vergangenheit. Erwerbstätige können mutig für ihre Interessen eintreten, Gewerkschaften ihre Forderungen besser durchsetzen. Wer nur eingeschränkt oder gar nicht erwerbstätig sein kann, ist besser abgesichert. Selbstbestimmtes Tun und die Entfaltung menschlicher Potenziale stehen im Mittelpunkt. Das BGE schafft Zeit und Raum für Kommunikation, Bildung, politische Partizipation und Ehrenamt und unterstützt den ökologischen Umbau der Gesellschaft. Das sind zentrale Ziele der Gewerkschaftsbewegung.
 
(Diskussionsstand 12. März 2023)
 


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