Das bedingungslose Grundeinkommen: ein Thema für jede Gewerkschaft
Der „Gewerkschaftsdialog Grundeinkommen“ ist eine Gruppe von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, die über das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) diskutieren wollen.
Wir sind nicht neutral. Wir sind überzeugt,
Inhalt:
1. Die Ziele der Gewerkschaften
Der Genfer Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation beschloss 1866, für den Achtstundentag zu kämpfen.
Arbeitszeitverkürzung war also von Anfang an ein zentrales Ziel der Gewerkschaftsbewegung. Heute diskutiert sie bereits über eine Viertagewoche. Die solidarische Organisation kollektiver Gegenmacht und der Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen stehen in den Gründungsurkunden der
Gewerkschaften, nicht die Forderung nach immer mehr Erwerbsarbeit für alle Zeiten.
2. Von der Bedeutung freier Tätigkeiten
Die Gewerkschaften treten für Freiheit und soziale Gerechtigkeit ein. Erst seit etwa 200 Jahren, also seit der
Industrialisierung, ist Tätigkeit gegen Entgelt die vorherrschende Arbeitsform. Wer den Lohn zum Leben braucht, ist nicht frei. Freiheit bedeutet: frei sein von Not und Zwang, auch vom Zwang zur
Erwerbsarbeit. Neben der Erwerbsarbeit gibt es unbezahlte Tätigkeiten, ohne die eine Gesellschaft nicht
existieren könnte: für Familie und Ehrenamt, für Bildung, Gesundheit und Kultur. Weil die gesellschaftlichen Bedürfnisse sich mit immer weniger Erwerbsarbeit erfüllen lassen, kann das
gewerkschaftliche Ziel „mehr freie Zeit“ verwirklicht werden – vorausgesetzt, Existenz und Teilhabe sind ohne Erwerbseinkommen gesichert.
3. Was Arbeit wert ist
„Heutzutage kennen die Leute den Preis von jeder Sache und den Wert von keiner“, schrieb Oscar Wilde. Karl Marx erkannte, dass alle Waren, also auch die Ware Arbeitskraft, einen Tauschwert (Preis
bzw. Lohn) und zugleich einen Gebrauchswert (Nutzen) haben. Wer Wohlstand am Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst, sieht nur den Tauschwert. Sogar Unfälle und Umweltschäden tragen aus dieser Sicht
zum Wohlstand bei, denn die Kosten erhöhen das BIP. Eine Alternative zum BIP ist der Nationale Wohlfahrtsindex, der jedes Jahr im
Auftrag des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomik berechnet wird. Wie kommt der Wert in die Welt? Darüber müssen wir
diskutieren, denn es ist nicht zuletzt für die Finanzierung des BGE wichtig.
4. Erwerbsarbeit ohne Zwang
Technischer Fortschritt ersetzt menschliche Arbeitskraft. Um 1900 erzeugte ein Landwirt in Deutschland
Nahrungsmittel für vier, im Jahr 2010 für 131 Personen. Das Arbeitsvolumen pro Kopf der Bevölkerung ist nur noch halb so hoch wie 1882. Wir versorgen und ernähren mit immer weniger Erwerbsarbeit
immer mehr Menschen. Menschliche Arbeit lässt sich reduzieren, ohne dass es zu EInschränkungen käme. Im Jahr 2022 produzierten Erwerbstätige um 25,4 Prozent mehr pro Person als 1991, das waren 45,3 Prozent mehr pro Stunde. Der Gewinn aus diesem
Produktivitätsfortschritt steht der gesamten Gesellschaft zu. Nicht nur den Erwerbstätigen und schon gar nicht allein denen, die Erwerbsarbeitsplätze anbieten.
5. Das Märchen von der Vollbeschäftigung
Die offizielle Arbeitslosenstatistik verschleiert die Erwerbsarbeitskrise. Gut eine Million Arbeitslose werden nicht mitgezählt: ältere
Bürgergeld-Bezieher, Ein-Euro-Jobberinnen, Menschen in Eingliederungsmaßnahmen. Prekäre Arbeit nimmt zu. 2016 gab es fünf Mal so viele Leiharbeiter*innen wie 1996, jede*r Vierte erhielt
Niedriglohn. 1,2 Millionen Menschen mussten mit Hartz IV aufstocken, neben 520.000 Minijobber*innen waren das 156.000 Vollzeitbeschäftigte. Auch wenn umstritten ist, ob Digitalisierung Arbeitsplätze schafft, kostet oder vor allem grundlegend verändert: Vollbeschäftigung als Mittel der Existenzsicherung taugt nicht mehr als gewerkschaftliches Ziel. Sie würde unaufhörliches Wachstum erfordern –
ökonomisch ausgeschlossen, ökologisch nicht zu verantworten.
6. Utopie mit Chancen und Risiken
Zum ersten Mal in der Geschichte der Neuzeit kann bezahlte Arbeit ihre zentrale Rolle verlieren. Eine Gesellschaft selbstbestimmt arbeitender Menschen braucht andere Institutionen. Auch die
Gewerkschaften müssen ihre Ziele und Strategien prüfen. Wie immer gibt es Chancen und Risiken. Nationalstaatliche Ideologien, die überkommene Strukturen wiederbeleben wollen, sind deshalb so
erfolgreich, weil die Politik keine konkrete Utopie jenseits der Erwerbsarbeitsgesellschaft anbieten kann.
7. Von der Erwerbs- zur Tätigkeitsgesellschaft
Die Gewerkschaften müssen einerseits im bestehenden System weiter für gute Erwerbsarbeit kämpfen. Hier hilft das BGE: Wer seine Existenz gesichert weiß, akzeptiert keinen schlechten Job. Gegen
Lohndumping braucht es weiterhin den Mindestlohn. Andererseits müssen die Gewerkschaften den Wandel von der Erwerbs- zur Tätigkeitsgesellschaft gestalten. Wenn die Bedeutung der Erwerbsarbeit
schwindet, werden selbstbestimmte Tätigkeiten wichtiger. Hier können sie daran anknüpfen, dass sie aus der Arbeiterbildung hervorgegangen sind. Wo jede*r lernen muss, Verantwortung für sich
selbst und für die Gemeinschaft zu übernehmen, ist Bildungsarbeit nötiger denn je.
8. Das Grundeinkommen im Sozialstaat
Weil durch technischen Fortschritt die Produktivität steigt, ist immer weniger menschliche Arbeitskraft und damit Erwerbsarbeit nötig. Deshalb brauchen wir eine von der Erwerbsarbeit unabhängige
Einkommensquelle: das BGE. Unser BGE ist keine Sozialleistung. Es ist ein Menschenrecht und gehört deshalb als Rechtsanspruch ins Grundgesetz. Alle erhalten regelmäßig Geld von der Gesellschaft,
auch ohne bedürftig zu sein und ohne Gegenleistung. Unser BGE ist kein Almosen. Es sichert Existenz und Teilhabe, schützt allerdings nicht gegen allgemeine Lebensrisiken wie Krankheit,
Pflegebedürftigkeit und Behinderung.
9. Neoliberale und konservative BGE-Konzepte
Neben dem emanzipatorischen BGE, das unabhängig macht, gibt es das neoliberale BGE. Für Neoliberale und Konservative soll es der
Markt richten, nicht der Staat. Die Sicherung gegen Lebensrisiken wird zur Privatsache erklärt. Den Rechtsanspruch auf
Sozialleistungen soll dann eine einzige, meist viel zu niedrige Geldleistung ersetzen. Wir grenzen uns scharf von solchen „Unterstützern“ eines BGE ab. Ihre Konzepte würden den Sozialstaat
aushöhlen, den insbesondere die Gewerkschaften erstritten haben.
10. BGE ist finanzierbar
Ein BGE ist finanzierbar, das zeigen durchgerechnete Modelle. Wenn Erwachsene jeden Monat 1400 Euro erhalten sollen und Kinder
bis 16 Jahre die Hälfte, müssen (Stand 2024) pro Jahr 1.300 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Der Sozialphilosoph Karl Reitter
zeigt, dass das möglich ist, wenn ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts umverteilt wird. Für uns ist klar: Einkommen aus Vermögen und Landbesitz, zum Beispiel Pacht, Miete, Dividenden und Zinsen,
müssen das BGE mitfinanzieren. Wir brauchen Vermögensteuer, Finanztransaktionssteuer und eine Mikrosteuer auf bargeldlose Zahlungen. Akzeptable Finanzierungsquellen haben wir zusammengestellt. Teile des BGE ließen sich zunächst auch durch staatliche Geldschöpfung finanzieren.
11. Was allen zusteht
Das BGE kann und soll nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen. Doch es hilft, das ökonomische System des Kapitalismus zu überwinden, hin zu einer gerechten Gesellschaft. Weil Deutschland nach der Verfassung ein Sozialstaat ist, müssen weitere einklagbare Rechte ins Grundgesetz, unter anderem ein Recht auf Wohnen, ein Recht auf Bildung und ein Recht auf soziale Sicherheit. Welche Güter und Dienstleistungen als öffentliche Güter unentgeltlich zur Verfügung stehen sollen, müssen wir als Gesellschaft diskutieren.
12. Solidarisch abgesichert
Lohnersatzleistungen wie Renten und Arbeitslosengeld sind individuelle Rechtsansprüche. Dieses System der sozialen Absicherung soll – nach einer Übergangszeit mit besonderen Regeln – zur
solidarischen Bürgerversicherung werden. Die Alterssicherung könnte sich aus dem BGE und einer umlagefinanzierten Zusatzversicherung zusammensetzen. Auch wer nur wenig einzahlen konnte, wäre dann
nicht mehr allein auf eine menschenunwürdig niedrige Lohnersatzleistung angewiesen. Steuerfinanzierte Unterstützung in besonderen Lebenslagen muss erhalten bleiben. Dass unsere Sozialsysteme an
Erwerbsarbeit gekoppelt sind, müssen wir grundsätzlich diskutieren.
13. BGE für Klima und Frieden
Krieg und Klimakrise bedrohen die Menschheit. Diejenigen, die am wenigsten zur Klimakrise beitragen, leiden am meisten darunter. Die dramatische Ungleichheit zwischen reichen und armen
Ländern, aber auch zwischen Arm und Reich bei uns, stiftet Unfrieden und bremst kluge Klimapolitik. Für Klima und Frieden muss die Ungleichheit abgebaut werden. Ein BGE kann das. Es verteilt den Reichtum von oben nach unten, holt arme Länder aus der finanziellen Abhängigkeit und durchbricht die
klimaschädliche Spirale des Wachstums. Wer darauf vertrauen kann, nicht durchs soziale Netz zu fallen, ist für einschneidende
ökosoziale Veränderung gerüstet.
14. Eine gerechte Gesellschaft
Das emanzipatorische BGE ist ein Gewinn an Freiheit durch mehr frei verfügbare Zeit. Damit sind Existenzangst und Armut Vergangenheit. Erwerbstätige können mutig für ihre Interessen eintreten,
Gewerkschaften ihre Forderungen besser durchsetzen. Wer nur eingeschränkt oder gar nicht erwerbstätig sein kann, ist besser abgesichert. Selbstbestimmtes Tun und die Entfaltung menschlicher
Potenziale stehen im Mittelpunkt. Das BGE schafft Zeit und Raum für Kommunikation, Bildung, politische Partizipation und Ehrenamt und unterstützt den ökologischen Umbau der Gesellschaft. Das sind
zentrale Ziele der Gewerkschaftsbewegung.
(Diskussionsstand 4. Mai 2024)
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